9. November_HistoLog.deSpätestens seit dem 9.11.1989, dem Tag der „Maueröffnung“, gilt der 9. November in zahlreichen Medien als „deutscher Schicksalstag“. Auch von Historiker*innen, insbesondere im Fernsehen, wird dieser Terminus gerne verwendet. Zahlreiche rezeptionsintensive Ereignisse der Geschichte lassen sich hier zuordnen: die Hinrichtung des Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung, Robert Blum, in Wien am 9.11.1848; der Höhepunkt der „Novemberrevolution“ mit der Ausrufung der „Deutschen Republik“ durch Philipp Scheidemann am 9.11.1918; der Putschversuch seitens der von Hitler angeführten Nationalsozialisten am 9.11.1923; der Höhepunkt der reichsweiten Novemberpogrome gegen jüdische Bürger*innen, Synagogen, Friedhöfe und Geschäfte am 9.11.1938; das Attentat von Georg Elser auf Adolf Hitler in der Nacht vom 8. auf den 9.11.1939; und schließlich der „Mauerfall“. Ob dieser Begriff jedoch eine treffende Beschreibung ist, scheint mehr als fraglich. Folgende Argumente sprechen dagegen:

  1. Der Begriff „Schicksal“ impliziert die Vorstellung einer fremden Macht (ob irdisch oder überirdisch sei dahingestellt), die das Leben des Menschen entscheidend prägt. Der Mensch, oder in diesem Fall „die Deutschen“ sind hier als absolut passiv verstanden. Ihnen widerfährt etwas oder es wird ihnen etwas zugefügt, was außerhalb der eigenen Handlungsmöglichkeiten liegt. Diese absolute Passivität trifft auf keines der oben genannten Ereignisse zu; es sei denn, man sieht die Geschichte noch immer aus Hegels Augen. Für Hegel erfüllte sich in der Geschichte ein tieferer Sinn. Ein Prinzip, welches er in Anlehnung an Schelling „Weltgeist“ nannte, sollte durch die Geschichte wachsen und letztendlich absolut werden. Gerade in Bezug zum 9. November 1938 enthält der Begriff „Schicksal“ eine nicht haltbare Komponente, da die Verursacher der Pogrome in diesem Fall eindeutig die „Deutschen“ selbst waren, die Gewalt gegenüber meist jüdisch gläubigen Deutschen ausübten. Der Begriff „Schicksal“ verschleiert hier Opfer und Täter in hohem Maß.
  2. Das „Schicksal“ beinhaltet etwas Undurchsichtiges, etwas, dass man nicht durchschauen oder verstehen kann. Das Schicksal hat nicht nur eine unergründliche Herkunft (siehe Punkt 1), sondern auch der Zeitpunkt seiner Erfüllung ist für denjenigen, dem es widerfährt, nicht absehbar. Auch dieses Kriterium kann auf obige Ereignisse, die allesamt mehr oder minder lange Prozesse und Entwicklungen waren, nicht angewandt werden.
  3. Der Begriff „Schicksalstag“ befördert den Glauben, an diesem Tag würde es auch in Zukunft weitreichende Ereignisse von historischer Bedeutung geben. Der 9. November wird so zu einem Tag, an dem das Schicksal auch in Zukunft über weitere Entwicklungen entscheidet. Hierin kann ein Versuch gesehen werden, die in Punkt 2 angesprochene Undurchsichtigkeit durchschaubar zu machen. Mit genau dieser Erklärungsmethode arbeiten auch Verschwörungstheorien, die ja bekanntlich oft für hohe Auflagen und eine breite Leserschaft sorgen. Hier könnte auch die Ursache, für die jedes Jahr aufs Neue auftretende Verwendung des Begriffs in den Medien liegen.
  4. Die Formulierung „der Deutschen“ suggeriert eine nationale Konstante, die in dem Ereigniszeitraum von mehr als 140 Jahren nicht existierte, beziehungsweise stets von unterschiedlichen Bevölkerungsteilen in Anspruch genommen wurde. Zudem waren Polen, Tschechen, Österreicher, Amerikaner, Franzosen, Israelis, Russen, Belgier, Niederländer, Briten und viele andere Nationalitäten mit den oben genannten Ereignissen konfrontiert.
  5. Die Verklärung des 9. November als entscheidungsträchtiges Datum folgt einer Tradition. Ab 1933 gedachten die Nationalsozialisten jährlich am 9. November den eigenen Toten des Hitlerputsches. Durch den an Teilnehmer verliehenen „Blutorden“ und die zur Reliquie erklärte „Blutfahne“ wurde dieses Gedenken Teil der durchdachten Propaganda. Nicht zuletzt deshalb ist es angebracht, das heutige Gedenken präzise zu formulieren.

Wie sich zeigt, wäre eine andere Bezeichnung für dieses „besondere“ Datum angebracht. Der „Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus“ weist hierbei in die richtige Richtung. Zusätzlich kann man aber auch einer demokratischen Tradition gedenken, die 1848 ihren Anfang nahm, oder dem Widerstand gegen das NS-Regime.

Welcher Begriff vermag es, diese unterschiedlichen Ereignisse zu fassen? Gedenktag an Unrecht und Freiheit? Tag der Geschichte? Oder ist es vielleicht gar nicht angebracht, die verschiedenen Ereignisse einem Begriff unterzuordnen, nur weil sie am selben Tag stattfanden? Über Meinungen und Vorschläge freue ich mich.mich!

Postskriptum: Und wieder wird der Begriff „Schicksalstag“ in vielen Medien verwendet – ein kurzer Überblick:

Köln Nachrichten; RP online; DRadio Wissen; Nordkurier; Deutsche WelleN24

  1. Ich denke, dass es Deiner Betrachtung an zwei Dingen mangelt.

    1.: Aus den Definitionen von Schicksal und die Deutschen wird zwar schnell klar, dass diese kaum für eine -wissenschaftliche- Kategorisierung taugen, aber die Verwendung des “Schicksaltages” findet so nicht in den wiss. Zeitschriften statt, sondern wie Du bemerkt hast in popularen und populären Medien. Die Reduzierung auf Sinneffekte ist diesem Begriff gegeben.

    2.: Punkt 5. halte für ein moralisierendes Politikargument. Hiermit stellst Du einen Druck her, der die Publizisten von heute in die Nachfolge der Nazis drückt. Zwar löst Du ihn mit dem Hinweis aus Präzisierung. Aber die Nähe wurde geschaffen – und ich denke sie ist unverhältnismäßig.

    Dein Kommentar zeugt von einem zu sehr akademisch-gewünschter Denkweise in den Medien. Herr Normalverbraucher folgt Dir nicht auf die Ausdifferenzierungen, sondern Sinnzusamenschlüsse. Deine Kritik teile ich, doch kann ich daraus keinen Vorwurf “an die Medien” machen. Es ist Deine Aufgabe -das deutsche Datum- (wie ich es nenne) der Öffentlichkeit mit Schlagbegriffen erzählbar zu machen.

    Wie sind Deine Vorschläge?

    • Ich kann hier eigentlich nur eine Kritik herauslesen: Die scheinbar ungerechtfertigte Forderung meinerseits an die Presse, akademischen Begriffen zu folgen. Bevor ich etwas hierauf erwidere, möchte ich klarstellen, dass mein Punkt 5 nicht die Absicht hat, Medienvertreter in die »rechte Ecke« zu rücken. Ich mache lediglich darauf aufmerksam, dass sie in Einzelfällen mit einer schwammigen Begriffswahl unbewusst einer Tradition folgen. Die Motive dahinter sind gänzlich andere. Diese Tradition besteht eben darin, eine höhere Macht (etwa das »Schicksal«) für die historischen Ereignisse des 9. November verantwortlich zu machen. Und diese Sichtweise war Teil der NS-Propaganda. Das ist kein »moralisierendes« und auch kein »politisches«, sondern ein historisches Argument. Die Verklärung des 9. November wurde zur Zeit des Nationalsozialismus heftig betrieben und nicht etwa zur Zeit der Weimarer Republik. Heute dient das »Schicksal« eher dazu, ein undurchschaubares Ereignis zu beschreiben – ja geradezu ein geheimnisvolles Datum. Geheimnisse und Schicksalsschläge bedienen eine breite Leserschaft. Womit ich auf die Kritik zurückkomme.
      Ich fordere keine »akademischen« Begriffe, sondern Genauigkeit und Stimmigkeit. Die meisten Journalisten haben einen ebenso hohen Anspruch an Ihre Berichterstattung, wie die meisten Wissenschaftler gegenüber ihrer Forschung. Vereinfachendes Schreiben darf hier und dort keine falschen Inhalte hervorbringen.

      »Das deutsche Datum« hört sich in meinen Ohren etwas zu nationalgeschichtlich an. Wie ich schon ausführte, bezog sich keines der oben genannten Ereignisse lediglich auf Deutschland. Je mehr ich darüber nachdenke, desto eher würde ich es vorziehen, die verschiedenen Ereignisse des 9. November unter keinem alleinigen Begriff zu subsumieren, sondern gegebenenfalls einzeln zu benennen.

  2. »Das deutsche Datum« hört sich in meinen Ohren etwas zu nationalgeschichtlich an. Wie ich schon ausführte, bezog sich keines der oben genannten Ereignisse lediglich auf Deutschland. Je mehr ich darüber nachdenke, desto eher würde ich es vorziehen, die verschiedenen Ereignisse des 9. November unter keinem alleinigen Begriff zu subsumieren, sondern gegebenenfalls einzeln zu benennen.

    Aber genau diesen Anspruch galt es zu erfüllen. Wenn man flüchtet und Einzelbenennung vornimmt, wird man keinen Titel, Schlagzeile oder Sprachbild finden. Die Aufgabe war ja einen Titel für den 09.11. zu finden.

    Daher nochmal: Welche Vorschläge hast?

    • Wie gesagt, mein Vorschlag lautet: Die Ereignisse einzeln benennen und dementsprechend historisch zu würdigen. Ich sehe hierin keine Flucht, sondern gerade ein Zuwenden zu den Tatsachen. Oberflächliche Begriffe flüchten doch viel eher das, was sie benennen wollen.

  3. Wir haben unseren Tagen Naen und Zahlen gegeben, die sich alle 365/366 Tage seit 1000 Jahren wiederholen.
    Da jeden Tag irgendetwas passiert, bleibt es nicht aus, dass mehrere Ereignisse auf einen Tag fallen. Wieviele Leute kennt man, die am gleichen Tage Geburtstag haben? Es ist also nichts mystisches.
    Auch andere Nationen erfuhren mal an einem 9.11. eine historisch wichtige Begebenheit; nur im deutschsprachigen Raum gab es mehr Ereignisse, die wir nun als bedeutsam gewichten.
    Auf einer rechtsradikalen Seite fand ich nun auch den Hinweis, dass die SS an einem 9.11. gegründet worden sein soll. – damals bewusst gewähhlt, heute nachträglich manipuliert oder Zufall vermag ich nicht zu durchschauen. Und bei gezielter Suche wird man noch mehr finden. Eventuell gilt dies für viele beliebige Tage unseres Kalenders.

    Aber warum den 9.11. nicht als Gedenktag bezeichnen – wertfrei als Tag zum Nachdenken? Einen Tag zu haben, an dem einen (der Wechsel von) Geschichte bewusst wird, halte ich für sinnvoll.

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