Buchbesprechung: Moritz Hoffmann, Als der Krieg nach Hause kam. Heute vor 70 Jahren: Chronik des Kriegsendes in Deutschland, zusammen mit Christian Gieseke, Charlotte Jahnz, Petra Tabarelli und Michael Schmalenstroer, Propyläen/Ullstein Buchverlage, Berlin 2015, brosch., 256 S., 16,99€.

Als der Krieg nach Hause kam 1_HistologZeitgleich mit dem Start des neuen Echtzeit-Twitter-Projekts »Heute vor 70 Jahren« und anlässlich des 70. Jahrestags der Befreiung von Auschwitz erscheint heute ein Geschichtsbuch, welches in mehrfacher Hinsicht Neuland betritt. In einer Zeit, in der die digitalen Publikationsformen den klassischen Printmedien, Verlagen und Redaktionen ihren Rang streitig machen und immer öfter Kassandrarufe den Tod des gedruckten Buches heraufbeschwören, wird allerorts nach Lösungen gesucht. Eines ist klar: Sowohl Verlage und Autoren, als auch die Geschichtswissenschaft stehen vor der Herausforderung, mit der Zeit zu gehen und sich dem Wandel der Kommunikations- und Publikationsformen und damit verbunden des medialen Konsumverhaltens anzupassen. Geschichtsvermittlung kann in Zukunft nur funktionieren, wenn moderne Kanäle dafür erprobt werden und somit auf die veränderten Gewohnheiten der Konsumentinnen und Konsumenten eingegangen wird. Dass dies keineswegs das Ende gewohnter Medien bedeutet, sondern sich alte und neuere gegenseitig ergänzen, könnte durch das Experiment von @digitalpast und Propyläen unterstrichen werden.

Das 5-köpfige Autorenteam der jungen Historikerinnen und Historiker um Moritz Hoffmann hat bereits 2013 mit dem Projekt @9Nov38 einen großen Erfolg mit der Vermittlung historischer Inhalte über Twitter gehabt. Die (soweit wie rekonstruierbar) zeitgenaue Nacherzählung der Angriffe auf Juden, Geschäfte und Synagogen am 9. November 1938 in Deutschland bewegte Tausende und rief ein internationales Presseecho hervor. Und schon damals folgten sie einem wissenschaftlichen Anspruch. Über einen Blog wurden die verwendeten Quellen im Nachhinein für alle zugänglich. Zum ersten Mal wird ein solches Projekt auf Twitter nun durch ein Buch begleitet.

Das Buch informiert umfänglicher als es in 140 Zeichen auf Twitter möglich ist über die Hintergründe, die Vor- und Nachgeschichte der Ereignisse. Zunächst bleibt festzuhalten, dass es sich – wie die Autorinnen und Autoren selbst im Schlusswort betonen – nicht um geschichtswissenschaftliche Grundlagenforschung, sondern um ein populärwissenschaftliches Sachbuch handelt. Das mag man schade finden, gerade wenn man zu denjenigen gehört, die zum tieferen Einstieg in ein Thema gerne auf Fußnoten zugreifen. Es ist aber aufgrund der kurzen Zeit der Buchproduktion und des experimentellen Charakters der Veröffentlichung durchaus nachvollziehbar. Und, auch wenn ich vorgreife, man merkt den Texten die fundierte Ausbildung der Verfasserinnen und Verfasser auch ohne Fußnoten an. Ziel war es, ein eigenständiges Werk zu schaffen, welches auch ohne die Tweets, also für sich gelesen werden kann. Das wurde zweifellos erfüllt.

In 13 thematisch ausgerichteten Kapiteln wird die Perspektive des Individuums mit seinen Erlebnissen, seinen Gefühlen und Bedürfnissen gesucht, nicht ohne den Blick durch Hintergrundinformationen und historische Fakten zu erweitern. So können die Ereignisse und vor allem die Tweets historisch eingeordnet und besser verstanden werden. Dabei bedienen sich die Autorinnen und Autoren einer leicht zugänglichen weil verständlichen Sprache, die aber mitunter einen etwas zu schlagwortartigen Charakter bekommt. Dieser wird durch die Hervorhebung einzelner Passagen in teilweise dunklen Randbalken verstärkt. Randnotizen wie »Besonders beliebt waren Komödien und Schnulzen.« (S. 166) zum Kino im Krieg oder »Mit dem ›Kampf bis zur letzten Kugel‹ war es nicht weit her.« (S. 240) zur deutschen Kapitulation verkürzen die Aussagen teilweise so sehr, dass es boulevardhaft wird. Die in Auswahl vorabgedruckten Tweets des Projektes wirken hingegen auflockernd und erhöhen den Anreiz, @digitalpast bei Twitter zu [ver]folgen. Als der Krieg nach Hause kam 2_HistologInsgesamt ist ein angenehmer, die Kapitel durchziehender Stil festzustellen; ganz, als ob aus einer Feder geschrieben wurde – was von einem guten Lektorat und einer intensiven Zusammenarbeit zeugt. Erfreulich, weil noch immer in populärwissenschaftlichen Werken nicht Usus, ist der Abdruck von Quellen und die aussagekräftige Auswahl an Tagebuchaufzeichnungen und Zeitzeugenberichten. Leider fehlen dem wissenschaftsgewohnten Leser auch hier die unmittelbaren Belege. Diese hätten das Bild der gelungenen Einstiegslektüre ebenso perfektioniert, wie thematisch sortierte Literaturangaben und Bildbeschreibungen direkt am Bild und nicht am Buchende.

Von den behandelten Themen überraschen zunächst nur wenige und viele decken sich mit den gängigen Erzählfeldern: der Holocaust, Todesmärsche, Hitlers Selbstmord, Massenvergewaltigungen, Werwölfe und Volkssturm, die Bombardierung Dresdens und die Vertreibungen zu Kriegsende. Auf den ersten Blick wäre ein weniger konventioneller Themenzugriff erfreulicher gewesen, welcher sich von den klassisch tradierten Erzählmustern abgehoben hätte. Liest man jedoch weiter, wird klar, dass hinter den einzelnen Kapiteln ein Anspruch steckt, der darüber hinausgeht. Grundlage sind aktuelle geschichtswissenschaftliche Erkenntnisse und methodisch wird anhand von Vergleichen und Einordnungen ein differenziertes Bild gezeichnet. Mit den verklärenden Selbstdarstellungen vieler deutscher Nachkriegserzählungen, die in Teilen bis heute wirkmächtig sind, wird mithilfe von Fakten geschickt gebrochen. Ein Drittel der »Deutsche[n] Frauen« (S. 97–121) waren 1939 Mitglied in der NSDAP oder den NS-Frauenorganisationen und mitnichten alle unpolitisch (S. 97). Im Kapitel »Deutschland, Deutschland ohne alles« (S. 39–52) wird nicht nur die Ernährungsproblematik der deutschen Bevölkerung und der Wehrmachtsoldaten verdeutlicht, sondern auch mit der rücksichtslosen Nahrungsmittelpolitik der Nationalsozialisten in den eroberten Gebieten in Polen und Russland und in den Gettos kontrastiert. »Die Verbrechen der letzten Tage« (S. 181–200) werden nicht nur anhand des Grauens der Todesmärsche, sondern auch durch andere Endphaseverbrechen eindrücklich, welche keineswegs nur von Mitgliedern der Gestapo oder der SS begangen wurden. Im Angesicht des Kriegsverlusts und unter peitschenden Durchhalteparolen wurden in den letzten Monaten des Regimes verstärkt Widerständler hingerichtet, Deserteure durch Standgerichte abgeurteilt und »Plünderer« erschossen. Daran waren auch einfache Bürger beteiligt, etwa solche aus dem »Volkssturm«. Die Beschreibung des »Freitods« (S. 211–233) bleibt nicht bei Hitlers Selbstmord stehen, sondern zeigt die in allen Bevölkerungsteilen anzutreffende Aussichtslosigkeit zu Kriegsende. Neben Anhängern der »Endsieg«-Legende, die sich bei Eintreffen der Alliierten umbrachten, kommen auch die Opfer von Vergewaltigung und Entrechtung zur Sprache – nicht ohne zu vernachlässigen, dass es nur wenige Zeit zuvor meist erbittert verfolgte Juden waren, die im Tod den letzten Ausweg sahen.

Gelungen ist zudem die Verflechtung großer Zusammenhänge mit Schilderungen einzelner Beispiele im Stil einer mikrohistorischen Betrachtung. So beginnt etwa das Kapitel über »Flucht, Vertreibung, Heimkehr« (S. 53–68) mit einer Erläuterung der gewalttätigen Umsiedlungsaktionen der Nationalsozialisten und folgt nicht dem vereinfachenden Narrativ eines grundlos aus der Heimat vertriebenen deutschen Volksteils, welches sich in den Erinnerungen so mancher »Heimatvertriebener« findet. Das Leid der Flüchtenden wird en détail anhand von Zeitzeugenberichten geschildert, aber auch die nachträgliche Verkehrung von Ursache und Wirkung mit der Folge einer Selbststilisierung als Opfer angesprochen. Das Kapitel zur Befreiung von Auschwitz (S. 21–37) informiert konzise über die Geschichte des Lagers. Es gelingt den Autorinnen und Autoren anhand der ausgewählten Beispiele zur Entwicklung der Tötungsmaschinerie, die immense Grausamkeit der Verbrechen einprägsam zu veranschaulichen. Die Gegenüberstellung deutscher und alliierter Luftangriffe im Kapitel »Dresden und der Bombenkrieg« (S. 69–95) macht die Eskalation der Gewalt im Krieg und die zugrunde liegenden Motive sehr deutlich. Darüber hinaus wird die Nachgeschichte dieses Ereignisses informativ bis in die heutige Zeit gespannt. Gerade der Luftangriff auf Dresden diente oft dem relativierenden Versuch, die Unmenschlichkeit auf beiden Kriegsseiten zu zeigen, und wurde politisch instrumentalisiert. Diese Erzählmuster entstammen all zu oft einer Perspektive, die auch dazu diente, sich mit der eigenen Schuld nicht zu befassen. Ohne Zweifel war das Leid der deutschen Zivilbevölkerung im Bombenkrieg von unsagbarem Ausmaß, allerdings war das Leid der Bewohner in den von Deutschland angegriffenen Ländern nicht minder gewaltig. Die Überbetonung des ersten ist aber typisch für die Erzählungen unserer Vorfahren. Wie es zur Herrschaft Hitlers kam, wurde schnell abgehandelt, das eigene Erleben und Leid, die Kriegsgefangenschaft und Nahrungsmittelknappheit ausgiebig erinnert, die Kenntnis von Diskriminierung, Deportationen und Massenvernichtung verschwiegen. Um es auf einen Nenner zu bringen: Das eigene Leid stand, auch nach dem Bekanntwerden der Ausmaße des Holocaust, stets im Vordergrund. Psychologisch ist das wahrscheinlich leicht zu erklären, im Rückblick auf die Vergangenheit aber, muss zur Einordnung der Berichte differenziert werden. Und genau das leistet das Buch ergänzend zum Twitteraccount.

Zusammenfassend lässt sich besonders das Engagement der Autorinnen und Autoren für neue Formen der professionellen Geschichtsvermittlung durch digitale Medien und der Mut des Verlags, gemeinsam mit jungen Forscherinnen und Forschern neue Wege zu beschreiten, positiv hervorheben. Wie das Projekt auf Twitter, im digitalen und analogen Buchhandel angenommen wird, ist noch offen, dass es sich hier um einen Weg in die richtige Richtung und eine adäquate Antwort auf den sich wandelnden Mediengebrauch handelt, nicht.

Wenzel Seibold

Links:

Der Twitteraccount zum Buch heißt @digitalpast. Die von @HelenMay_ angebotene englische Übersetzung lässt sich unter @digitalpast_en lesen. Fragen an das Projektteam können per Kommentar oder Mail über die zugehörige Webseite oder per Twitter über @askdigitalpast gestellt werden.

Moritz Hoffmann zum Nutzen einer digitalen Public History: resonanzboden. Der Blog der Ullstein Buchverlage.

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